St. Corona am Wechsel, eine kleine Gemeinde in der Nähe von Krumbach und Gloggnitz. Also irgendwo im Nirgendwo Niederösterreichs. Seit dem 16. Jahrhundert pilgern hier Anhänger einer 16-jährigen Märtyrerin hin, die aktuell Namensvetterin einer der offiziell schlimmsten Seuchen der Menschheitsgeschichte ist.
Die junge Corona, irgendwann zwischen dem 1. und 2. Jahrhundert geboren, war die Frau von Viktor, der sich während der Christenverfolgung weigerte seinen Glauben aufzugeben. Gleich ihrem Mann, dem Sieger, ging die ‚Gekrönte‘ in den Märtyrertod und wurde, zwischen Palmen gespannt, in zwei gerissen.
Ein Gefühl, das nicht nur auf die heutige Lage passt, sondern das Dilemma von Krankheit überhaupt ausweist: Was kann ich glauben? Wo liegt die Wahrheit? Wie soll ich mich verhalten?
Für die heilige Corona war ihr christlicher Glaube offenbar stark genug, um sich der Obrigkeit zu widersetzen. So wurde sie zur Schutzheiligen gegen Seuchen.
Ohne die große Gefahr der heutigen Corona klein reden zu wollen, scheint mir eine solche Widerstandsfähigkeit zurzeit stark zu fehlen.
Alle – auch die Gesunden, die Nicht-Gefährdeten – haben Angst um ihr „nacktes Leben“, weil das Virus schon lange durch die Lungen der Medienkanäle ventiliert ist. Und hier husten die Virologen, Experten und Politiker ihr Geheimwissen aus, um ihr Volk nicht nur zu schützen, sondern auch zu bevormunden.
Einen Glauben an den Gesunden, vor allem den gesunden Menschenverstand gibt es nicht. Jeder wird wie ein Kranker, ja Sterbenskranker behandelt und ich frage mich – obwohl mir der Versuch, die Krankenhäuser nicht zu überlasten, natürlich einleuchtet – wieso?
Wieso nicht mit mehr Vertrauen in die Allgemeinheit und gezielten Schutz der wahrhaft Gefährdeten?
Die Kulturwissenschaft hat eine Antwort darauf: Sie kennt den Traum von Reinheit in all ihren Emanationen und Abgründen.
Am Anfang von allem steht die Pest, der Schwarze Tod. Mit ihr wurde in vielen Städten im 15. Jahrhundert über 50% der Bevölkerung ausgelöscht. Sie war nicht nur Beginn großer Hygieneaktionen und medizinischer Neuerungen, sondern eines stark aufflammenden Rassismus. So beschreibt der Kulturhistoriker Thomas Macho in seinem Essay „Keimfrei!“, wie besonders Juden und Leprakranke zu Schuldigen der Seuche wurden. Sie galten nicht nur als krank, sondern arglistig und unzüchtig. Man glaubte sogar, dass sie versuchten ihre Krankheit loszuwerden, indem sie mit einer gesunden Person schliefen. Oder dass sie nur große (sexuelle) Befriedigung erführen, wenn sie ihre Seuche weitergeben könnten.
Ein Diskurs, der sich in Österreich auch heute abzeichnet: Schuldig waren erst die Chinesen, dann die Iraner, schließlich die Italiener. Von der eigenen Unzüchtigkeit beim Aprés-Ski wollte man lange nichts wissen, weswegen gerade diese Kranheitsberge nicht frühzeitig geschlossen wurden.
Dafür werden nun alle als Aussätzige behandelt.
Krankheit ist nicht einfach Kranksein. Es ist ein übergeordneter Makel, rückt jeden in den Bereich des Schmutzigen, des Unhygienischen, des Triebhaften, das unsere Kultur doch so erfolgreich verdrängt hat. Nicht umsonst nennt Freud sein Nachdenken über die Kultur das Unbehagen an ihr und macht deutlich, dass sie nicht aus Sublimierung und Gesundheit entsteht, sondern aus all den niederen Trieben, der Todeslust und dem Infiziertsein von bösen Gedanken.
Deswegen brauchen wir die Kultur, so Freud, um unser ‚krankes‘ Unbewusstes einzudämmen. Deswegen brauchen wir die Isolation, so die Regierungen, um unsere kranke Natur nicht zu übertragen.
Ich frage mich: Ist es wirklich nicht möglich, die Alten und Kranken zu schützen und trotzdem ein Eis essen zu gehen? Sind wir wirklich alle so unsittlich, dass wir jeden gleich begrabbeln und anspucken wollen, der in unsere Nähe kommt?
Auch hier spielt wieder ein rassistischer Diskurs hinein, jedenfalls in Österreich. Waren die ersten ‚Schuldigen‘ die Chinesen, Iraner und Italiener, sind nun die Gefahrenherde die Slowaken, Tschechen und Ungarn, die mit ihrem ‚heißen‘ Temperament – das ja schon an sich krank ist! – einfach weiter in ihren ‚Familienhorden‘ am Donaukanal sitzen und ihre Viren verteilen.
Dafür braucht es scharfe Polizeikontrollen. Dafür brauch es nicht nur Ausgangsbeschränkung, sondern Ausgangssperre.
Ich bin mir sicher, dass diese bald kommt.
Und ich bin mir sicher, dass sie weit über die Seuchenangst hinausgeht und tief an die Angst vor den Fremden, ja sogar die Angst vor der eigenen unzüchtigen unhygienischen Natur rührt. Züchtigung war schon immer eine Menschenlust. Auch wenn er stets dagegen rebelliert: jetzt in Form von Corona-Partys und dem Mut-Abschlecken von Toilettenbrillen.
Ist Ava Louise mit ihren künstlichen Lippen und sterilen Fingernägeln unsere neue Märtyrerin? Ihren Tod kündigt sie nach 18 Millionen Views auf jeden Fall schonmal metaphorisch an.

„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“, schreibt Freud kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs und der Massenvernichtung der jüdischen Gemeinschaft.
Mir scheint diese Frage auch jetzt wichtig zu sein und zwar nicht in Form von Sperrungen und Schließungen: Wie können wir das Zusammenleben trotz Corona gestalten? Wie nicht zu weiteren Gefährdungen der Selbstständigen, der prekär Angestellten, kleiner Läden und Kulturhäuser führen? Wie kann ein Miteinander in gebührender Distanz aussehen – ohne sich und andere auszuschließen?
Und vor allem: Wie können wir diese Krise nutzen, um die viel größere Verschmutzungsgefahr, die hinter ihr lauert, zu bewältigen?
Auch wenn höchstwahrscheinlich 99% der Bevölkerung Corona überleben, sind die einen danach den Folgen einer katastrophalen Wirtschaft ausgeliefert und die anderen kurbeln diese durch übermäßigen CO2-Ausstoß, Unsinnskäufe und Erleichterungsurlaube an.
Und schon haben alle Menschen nur noch kurze Zeit zu leben.
Oh, heilige Corona, Schutzpatronin gegen Seuchen und für den Reichtum (hier bestand offenbar schon immer ein Zusammenhang),
segne alle mit Grundeinkommen und gesundem Menschenverstand!
Am 14. Mai ist ihr Gedenktag.
