
Ich bin 36 und ich bin alt. Weil ich auf die Frage, ob ich Kinder habe, mit „Nein“ antworte. Die Reaktionen sind oft skeptische oder mitleidige Gesichter. So wird Alter immer weniger zu einer Frage, wie alt man wirklich ist, sondern immer mehr, wieviel man geleistet hat.
Im Alter von etwa 6 Jahren verkündete ich meiner Großmutter, dass ich, wenn ich einmal „alt“ bin, 2.5 Kinder haben möchte. Zwei ganze und ein halbes, das niemals groß werden sollte. „Alt“ bedeutete damals für mich alles ab 25 Jahren. 30 war für mich schon fast nicht mehr vorstellbar, da es älter als meine Mutter war; 35 rückte schon klar in die Nähe meiner Großmutter. Und so war es auch wirklich: Als ich meiner Oma von meinem Kinderwunsch erzählte, war sie selbst erst Anfang Vierzig. Also eigentlich noch jung – jedenfalls für das, was sie ‚geleistet‘ hatte: Einen Krieg überstanden, zwei Kinder bekommen, in einem Möbelpark gearbeitet, ein Haus gekauft und Großmutter geworden.
Das gefühlte „Altsein“ hängt von vielen rites des passages ab: Bei dem einen ist es der Roman, der Ende 30 immer noch nicht geschrieben wurde. Bei den anderen das Drehbuch, das Haus oder eben die Kinder, die immer noch nicht erschaffen wurden. Erst diese fehlenden Leistungen lassen uns wirklich alt fühlen. Wäre es da nicht viel besser auf das wirkliche Alter zu schauen?
„Unter Alter versteht man das Lebensalter zwischen dem mittleren Erwachsenenalter und dem Tod“, sagt das Lexikon. „Das Altern ist meist mit einem Nachlassen der Aktivität und einem allgemeinen körperlichen Niedergang verbunden“, sagt es weiter. Vielleicht lässt der Blick auf den eigenen Tod uns also absurder Weise wieder jung fühlen.
Denn anstatt auf die ganzen kleinen Tode, das Nicht-Geschaffene, das Fehlende, die Lücken in unseren Lebensläufen zu blicken, gibt der wirkliche Tod uns wieder den Blick frei für das, was noch kommen kann. Das Ende sagt deutlich: Du bist nicht alt. Nicht mit 30, mit 40, mit 50 oder 60. Noch nicht einmal mit 70 (auch wenn das für mich als Kind undenkbar war). Das Durchschnittsalter in Deutschland liegt bei 88,8 Jahren. Mit 70 hat man also noch das ganze Leben eines Heranreifenden vor sich. Und kann sich auch so verhalten.
Meine gerade 80 gewordene Oma ist für 4 Monate in Südafrika und schickt mir begeistert Fotos von Pinguinen und dem wilden Ozean über Whatsapp.
Alter ist nicht gleich Altsein.
Im Französischen gibt es sogar zwei verschiedene Bezeichnungen für das Alter – eines männlich: „âge“, und eines weiblich: „vieillesse“. Der Stamm „vie“ deutet auf die Kraft, alles daran gehängte meint „verlieren, verschwinden“, während dem „age“ wenigstens noch das Agile innewohnt. Aber man könnte auch an das althochdeutsche „wig“ denken, aus dem unser heutiges „weigern“ kommt und das dem weiblichen Alter wenigstens etwas Trotz und Kampfansage mitgibt.
Während das Alter des einen in vielen Kulturen verherrlicht wird, wird das Alter der anderen immer noch diskriminiert. Die alte Frau ist eine Hexe. Oder wie Olga Tokarczuk, 58-jährige Nobelpreisträgerin, in einem der wenigen Bücher, die aus der Perspektive einer alten Frau geschrieben sind, erzählt: Sie ist die Nichtbeachtete, die Übersehende. Sie kann deswegen aber auch ganz ungestraft Rache an der Männergesellschaft üben.
Ohne Rache üben zu wollen: Gerade Frauen im Alter – und nicht alte Frauen! – sollten sich auf ihre Kraft besinnen. Es ist ihre Erfahrung, ihr Schaffen, ihr Geist, von dem wir noch viel lernen können. In Tokarczuks Der Gesang der Fledermäuse ist es die Verbundenheit mit der Natur und die Gelassenheit der Alten, die alle anderen Figuren und sogar ihre eigene Krankheit überschwebt. Wir brauche mehr solche Erzählerstimmen! Mehr Vorbilder für ein (welten)reiches und kraftvolles Altern, das zeigt, dass wir alles Mögliche auch noch später machen können und uns die To-Do-Liste und rites des passages aus dem Kopf hämmern.
Ich nehme mein Alter wenigstens zum Anlass wieder zu bloggen. Damit aus dem Cocoon auch irgendwann ein Schmetterling entsteht.