Corona hat viele Missstände zutage gefördert: Schlachtbetriebe wurden lahm gelegt, Gesundheitssysteme versinken im Chaos, und eine allgemeine Fremdenfeindlichkeit grassiert. Nur eine Bastion bleibt: die Familie. In ihr darf man sich ohne Mundschutz bewegen, ja sogar kuscheln. Doch schlagen gerade dadurch – als ob Sigmund Freud selbst die Tagesberichterstattung verfasst hätte –die Neurosen familialer Konstellationen durch.
Alles begann mit ein paar gewalttätigen Männern im fernen China, die während des Lockdowns offenbar zunehmend ihre Frauen geschlagen oder sogar vergewaltigt haben. Nun gut, dachten viele, es ist eben eine andere Kultur. Der asiatische Mann noch ein Patriarch, der in der ‚Father Knows Best‘-Trilogie von Ang Lee immer wieder ironisch gebrochen wird, in der sozialistischen Filmkultur Chinas aber heute noch präsent ist: Der Vater entscheidet nicht nur über Glück oder Unglück seiner Partnerin und Nachkommenschaft, sondern als Sinnbild der Kommunistischen Partei auch über das Schicksal eines ganzen Landes. Da kann man schon mal übergriffig werden. Oder eben autoritär.
Doch dann verbreiteten sich – wie das Virus selbst – auch in Deutschland und Österreich erste Gewaltherde. Die eingesperrten und oft arbeitslos gewordenen Väter gehen auf ihre Frauen los – im besten Fall. Denn die wirklich erschreckenden familialen Szenarien sind die vielen Übergriffe auf die eigenen Kinder, die Freuds von Inzestgedanken und Sexualtrieben durchtränkte Familientheorie beinahe wie eine Utopie wirken lassen. Bei Freud sind es immerhin nur Imaginationen, die vom Sohn Ödipus über die Mutter auf den Vater und wieder zurück übertragen werden. Was der Psychoanalytiker allerdings um die Jahrhundertwende als Phantasie des Kindes abtun wollte, scheint gegenwärtig in großem Maßstab Realität zu sein.
So wird Ödipus in jüngster Zeit von einem ganz anderen Prototypen familialer Triebstruktur übertroffen: Fritzl. Der Lockdown in Coronazeiten ist zwar von außen auferlegt, doch innerhalb der vier Wände ebenso dramatisch ausagiert wie von dem Familienvater, der seine Tochter Jahrzehnte lang einsperrte und mehrere Kinder mit ihr gezeugt hat. Ein Modell, das sich im Übrigen weit vor Ödipus in den antiken Mythen finden lässt.

Kronos‘ Verschlingen von seinen fünf Kindern, das seit Hesiod am Beginn der Götter-genealogie der Griechen steht, deutet nicht einfach nur auf einen Tötungswunsch des Urvaters hin, sondern auch auf eine erotische Fresslust: Verschlingen ist hier gleich Einführen und Aufnehmen. Dies sieht man besonders gut auf dem ikonisch gewordenen Bild von Goya Saturno devorando a su hijo, in dem sich Kronos oder eben Saturn mit weit aufgerissenem Mund den Arm eines seiner Kinder in den Rachen steckt, mit gleichzeitig erschrockenem und lustvoll verzerrtem Gesicht.

Selbst eine scheinbar geschlechtslose Gestalt hält er das, was als Sohn im Titel benannt wird, aber mit rundem Gesäß und geschwungenen Oberschenkeln ebenso wie eine Tochter aussieht, an seine eigentlich erogene Zone: die Mundhöhle. Hier wird nicht nur gegessen, hier wird penetriert, Geschlechter und Rollen vertauscht – wie es die perverse Logik des Inzests hergibt. Töchter werden zu Gattinnen, Kinder werden zu Enkelkindern und Geschwistern zugleich.
Im Fall von Kronos wird der Vater sogar zur Mutter, wenn man der Deutung von George Devereux und Thomas Macho folgt: Entgegen Goyas Darstellung zerreißt der Göttervater seine Nachkommen nämlich nicht, sondern nimmt sie nach Hesiod im Ganzen in seinen Bauch auf. Dabei ist Kronos selbst schon aus dem Inzest seiner Mutter Gaia mit ihrem Sohn Uranos gezeugt, die irre Inzestlogik und ihre (im wahrsten Sinne) alles einschließenden Wiederholungen gehen also auch an dieser Deutung nicht vorbei.
Die Bibel bietet zwar nur eine verkehrte Verführung an: der arme Vater wird von seinen Töchtern missbraucht, doch ist es wenig nachvollziehbar, das Lot und ihre Schwester von dem alten Mann geschwängert werden können, ohne dass er es merkt.

Selbst die Brüder Grimm konnten in ihren viel zensierten Hausmärchen den Inzest nicht austreiben. Besonders in Allerleirauh tritt der Wunsch des Vaters, seine Tochter zu begatten, so deutlich zutage, dass sie ihn nur mit viel List und schließlich einer Flucht davon abhalten kann, sie zur Frau zu nehmen. Letztlich wird das Begehren des Vaters aber erfüllt: Die Tochter kommt zurück und setzt sich ‚freiwillig‘ an die Stelle ihrer Mutter. Es ist für mich immer noch nicht begreiflich, wie einige feministische Auslegungen dies als Emanzipationsgeschichte werten können.
Aber gut. Deutlich wird, dass der Mikrokosmos Familie noch nie ein einfaches Heiligenbild abgab. Die Literatur weiß spätestens seit der Romantik so gut wie die Psychoanalyse, dass der Kern einer (wahnsinnigen) Geschichte oftmals das verbotene Begehren des Vaters gegenüber den eigenen Kindern ist: Beispiele wie Adalbert Stifters Narrenburg, Max Frischs Homo Faber, Ingeborg Bachmanns Fall Franza (vielleicht haben die beiden sich auch hier gesucht und gefunden…) oder Toni Morrisons The Bluest Eye zeichnen ein äußerst düsteres Bild der Familienkonstellationen, das immer wieder den Topos des Unsagbaren streift. Film und Fernsehen versuchen u. a. mit Thomas Vinterbergs Fest und David Lynchs Twin Peaks diesen Topos wenigstens visuell zu füllen.
Und jetzt wird er einfach in die Realität geholt: ein Anstieg von 30% Prozent der Missbrauchsfälle – zumindest bei der Kinderpornographie –, wenn die Familie sich selbst überlassen bleibt. Parallel zu einer überschwänglichen Feier alter Werte wie Monogamie, Ehe und Elternschaft, tritt in der Pandiemie-Zeit die große Dunkelziffer, die die Folgen des Corona-Lockdowns zu einem kaum abtragbaren Berg von Traumatisierungen, Fehlverhalten und Ängsten macht.
Wie ich in meinem letzten Artikel schon angedeutet habe, scheint mir die Öffnung der Kleinfamilie für viele dieser Probleme heilsam zu sein. In meinem Beitrag ging es um Adoption über nationale und kulturelle Grenzen hinweg, um Fremdenfeindlichkeit und die immer ungleichere Verteilung des Reichtums wenigstens im Kleinen lösen zu können. Doch bei Fritzl geht es um mehr.

Ein Anti-Ödipus reicht da keineswegs aus.
Es geht nicht nur um ein Neudenken von familialen Strukturen und des Phantasmas, dass es allein die Kinder sind, die zum ‚Großwerden‘ ihre Inzestphantasien brauchen. Es geht um ein ganz konkretes, ganz genaues Hinschauen auf das, was Corona offenlegt:
Die Familie ist ein Superspreader der Krise.
In ihrem Kreis muss ein Antifritzl gefunden werden, der nicht zulässt, dass Kernfamilien wie ein Nukleus in sich zusammenfallen und all die gefährlichen Verbindungen zu unlösbaren Knoten machen, die auch nach einer Öffnung niemals mehr verschwinden.
Wir sind zwar alle Knotenkinder auf die eine oder andere Weise. Aber eine Lockerung muss auch das Entschärfen dieser Schaltkreise bedeuten, um nicht als Bombe über staatliche und nationale Grenzen hinweg zu explodieren.
Sonst bleibt es „wie an Weihnachten – nur viel schlimmer“, wie ein Opferhelfer leider keineswegs ironisch zu den heutigen Missbrauchsfällen bemerkt: Wenn Familien längere Zeit in einem Haus sind, gehen die Fallzahlen hoch und setzen sich als Brandherde auch ohne Corona fort.
Bleibt die Frage, wie viele Covid-19-Tote das aufwiegen können. Und ob man lieber in die Zukunft oder die Vergangenheit schaut.