Wien, 2.11.2020. Zusammengepfercht mit 20 Menschen in einem abgedunkelten Restaurant. Draußen singen die Sirenen und Hubschrauber kreisen durch die Luft. Drinnen versucht man sich mit einem Ausgang zum Hinterhof die Aerosole vom Leib zu halten. Eine solche Extremsituation drängt die Frage auf, wo eigentlich die größere Gefahr liegt: vor oder hinter der Tür? Und lässt erkennen: Das Haus ist längst porös geworden.
Als Terror, lateinisch „Schrecken“, wird die systematische und oftmals willkürlich erscheinende Verbreitung von Angst durch ausgeübte oder angedrohte Gewalt verstanden. So jedenfalls die UN-Resolution. Vor dem Hintergrund des 11. September wurde diese Definition erweitert und in eine Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten überführt, „den internationalen Terrorismus mit allen Mitteln“ (Resolution 1373) zu bekämpfen. Vielen Juristen und Politikwissenschaftlern schien das schon 2004 eine gefährliche Erweiterung, mit der die USA den Afghanistan-Krieg rechtfertigte.
Auge um Auge. Zahn um Zahn. In Wien und Umgebung werden zurzeit überall Razzien gegen die Muslimbrüder und andere Glaubensgemeinschaften durchgeführt. Dabei wird stolz verkündet, dass man 25 Millionen „in bar“ beschlagnahmt und sogar Politologen, die über Islamophobie promovieren, ertappt habe.

Wobei, ist unklar. Bei der Anhäufung von Geld? Die Zeitungsberichte und Radionews nehmen keine konkreten Spekulation vor. Sie schaffen damit einen Raum der Imagination, der viele Menschen am Tag des wirklichen Anschlags in absolute Panik versetzt hat. Und die Wände von innen nach außen durchlöchert – nicht andersherum.
Neben dem Wissen um vier Tote und viele Verletzte hat mich das am meisten erschreckt: Die Einschüchterung der Bevölkerung durch die Massenmedien.
Am 2.11.2020 wurde nämlich nicht nur mit einem Sturmgewehr geschossen. Es jagten Hubschrauber von OE24 mit ihren Spotlights durch den Himmel, über den Newsticker von Krone.at wurde eine Geiselnahme auf der Haupteinkaufsstraße kolportiert und über die sozialen Medien Bilder der Morde und Tatorte gepostet, die die 20 Menschen, mit denen ich in diesem dunklen Restaurant festsaß, noch ängstlicher gemacht haben. Mich inklusive.

Die systematische Verbreitung von Schrecken – wie die UN es für den Terror definiert – kam am Montag nicht nur von einem Einzeltäter, sondern von tausenden Blitzfeeds und Kameralichtern, die noch bis in die späten Nachstunden die Aufregung nutzten, um ihre Leser bei der Stange zu halten.
Nun könnte man einwerfen, dass es sich hier nur um Boulevardzeitungen und Käseblätter handelt. Doch auch die Tagesthemen posteten jede Bewegung im Wiener Raum und haben mir dutzende aufgeregte Nachrichten und Telefonanrufe beschert, noch bevor ich selbst überhaupt von der Lage ‚da draußen‘ wusste.
Sicherlich ist es schön, dass sich Menschen Sorgen um einen machen. Und dass man auch über größere Distanzen so schnell miteinander verbunden ist. Doch hilft es in der Situation wenig, dass tausende andere am Fernseher oder Handy mitfiebern, wenn man selbst in einem verriegelten Raum hockt – oder noch viel schlimmer: sich um Opfer kümmern, bis zum Wahnsinn panische Menschen beruhigen oder eine sicher Ecke vor dem nächsten Schuss suchen muss.
Das ist mir zum Glück alles erspart geblieben. Ich kenne aber Menschen, die genau dies in dieser Nacht geleistet und miterlebt haben. Und die von diesem einmaligen „Zustand des Schreckens“ (Resolution 1566) gleich in einen allgemeinen übergehen mussten.
Denn das Eingesperrtsein in Restaurants ging nahtlos in den Lockdown am nächsten Tag über – Anlass dafür, dass am Montag überhaupt alle Läden so voll waren. Frühlingshaftes Wetter, Rumhocken in Kaffeehäusern ohne Plastikabsperrung oder Sicherheitskonzept. Weißer G’spritzter und letzte Reste von Sturm flossen durch die sozialhungrigen Münder.
Schon am Samstag, als die Sperrstunde für Österreich verkündet wurde, hatte ich surreale Szenen eines Bürgeraufstands vor mir: Wilde, blutbefleckte Jugendliche, denen es offensichtlich reicht mit der Beschränkung und die ihr Recht auf Jugend markieren, wankten über die Straßen. Ich hatte Halloween einfach vergessen. Die Läden haben mich auch nicht wie sonst Monate davor mit billigen Gummischlangen und Plastikkürbissen darauf aufmerksam gemacht. Kein Kind hat Süßes oder Saures vor den Türen verlangt.

Nur 20-jährige Leichen und Zombies haben diesen Moment genutzt, um den Geist der Pandemie mal so richtig auszutreiben. Dies hat sich bereits in viele Fallzahlen übersetzt und eine weitere Verlängerung der Sperrstunde zur Folge. Doch der Geist der Halloween-Partygänger bleibt: Die Stimmung ist – im wahrsten und traurigsten Sinne – bis zum Anschlag hochgepeitscht. Der Mann, der vom Falter nur als „Oaschloch“ bezeichnet wurde, was wohl kaum die Tragik seiner Tat erfasst (und mir ein weiteres Medium halbwegs normaler Berichterstattung nimmt!), scheint von einem Ausnahmezustand getrieben, der nicht bei ISIS anfängt und auch nicht dort aufhört. Er reicht bis in jedes Wohnzimmer.
Die permanente Verbreitung von Angst obliegt zurzeit vor allem der Presse und ihren Newstickern mit den neuesten Fallzahlen oder Wahlstimmen, die wie eine Sanduhr das Ende der Menschheit vorzuzeichnen scheinen. Diese Angst wird in Österreich – und auch in vielen anderen Ländern – von der Regierung gezielt eingesetzt, um Entscheidungen zu beschleunigen oder einfach ganz am Parlament vorbeizuschleusen. Was wir also als Feind der Demokratie ausschließen wollen – den Terror –, ist über den Umweg der Medien schon lange legitimes Mittel, um staatspolitische Entscheidungen zu beeinflussen.
Und tatsächlich: Schaut man sich die Geschichte des Terrors an, war die Einschüchterung der Bevölkerung durch angedrohte oder ausgeführte Gewalt zu Beginn Sache des Staates. Ob bei den englischen oder französischen Aufklärern, im 18. Jahrhundert findet man den „terror of power“ (Thomas Hobbes) als adäquates Mittel, seine Mitbürger vor schlimmeren Taten – wie das Feiern einer Halloweenparty – zu bewahren. Besonders die französischen Revolutionäre nutzen dafür die Guillotine und ließen ihr Regime in eine „Schreckensherrschaft“ („la Grande Terreur)“ kippen. Wenn Robespierre 1794 kurz vor seiner eigenen Enthauptung sagt: „Der Terror ist nicht ein besonderes Prinzip der Demokratie, sondern ergibt sich aus ihren Grundsätzen“, gibt mir das auch für die Gegenwart zu denken.
Wir durften in den letzten Monaten erleben, wie Staatsgewalt immer wieder über den Terror der Medien ausgeübt wurde. Und wie porös unsere Häuser dadurch sind: Ihre Wände bieten vielleicht noch Schutz vor wirklichen Einschüssen, doch deren Bilder und Geschichten dringen ungefiltert in uns ein. Sie führen zu einem lautstarken Widerhall bei rechten Aktionisten und zu einem grausamen Echoraum in jedem Einzelnen. In der Isolation wird nun nicht nur das Besteck der Liebsten desinfiziert, sondern auch die Türen noch ein bisschen fester verschlossen.
Dabei müsste man doch dringend lüften.